8. Mai 2021: 76. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg

Erinnern, auch an die LSBTTIQ-NS-Opfer!
Danke allen Kämpfer*innen gegen Faschismus und Krieg!

Das Bündnis Vielfalt für Alle beteiligt sich an den Aktivitäten zur Erinnerung an die Befreiung Deutschlands und Europas von Faschismus und Krieg am 8. Mai 1945. Für diesen Tag haben Millionen alliierte Soldat*innen, Menschen aus dem Widerstand, Partisan*innen und Kriegsdienstverweiger*innen ihr Leben riskiert und geopfert.

Ihrer sowie aller Opfer der NS-Diktatur werden am 8. Mai 2021 verschiedene Organisationen sowie Einzelpersonen mit Blumen am antifaschistischen Mahnmal in Stuttgart (Karlsplatz) um 15 Uhr unter Einhaltung der Coronavirus-Schutzregeln (Abstand/FFP2-Mundschutz) gedenken. Auftakt ist um 14 Uhr am Landgericht Stuttgart (Urbanstraße 20) und eine Zwischenkundgebung wird es am Hotel Silber (Dorotheenstraße 10) geben, dem ehemaligen Sitz der Gestapo von Württemberg und Hohenzollern, dem Ort, von dem aus bis in die 60er Jahre homosexuelle Männer nach §175 in der NS-Fassung von der städtischen Kriminalpolizei verfolgt wurden.

Der 8. Mai 1945 bedeutete für die lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen – kurz LSBTTIQ – die Befreiung von faschistischer Verhetzung, Unterdrückung und Terror. Ihre Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung ging jedoch nach 1945 weiter. Er führt uns vor Augen, was geschehen kann, wenn Hass und Hetze eine Gesellschaft vergiften, wenn Ausgrenzung, Abwertung und Entrechtung von Menschen und ganzer Menschengruppen hingenommen oder gar unterstützt werden.

Kaum ist der NSU-Prozess in München vorbei, werden neue rechte Terrornetzwerke wie z. B. die
Gruppe S bekannt. Diese hatte Waffen gesammelt sowie weitere Terroranschläge auf fünf bis sechs Moscheen zum Zeitpunkt der Freitagsgebete und auf die Grünen-Politiker Robert Habeck und Anton Hofreiter geplant und die Zeit für gekommen gesehen, „die Antifa zu beseitigen“. Immer wieder kommt ans Tageslicht, dass auch Polizisten und Bundeswehrangehörige in rechte Strukturen verwickelt sind und dass das staatliche V-Mann-System von der Unterstützenden-Szene der Rechtsterroristen zur Stärkung ihrer Netzwerke und zum Schutz vor Strafverfolgung genützt wird.

Wie lange wollen staatliche Stellen hier noch immer von „Einzeltätern“ sprechen?

Esther Bejarano, KZ-Überlebende: „Es waren die Nazis, die Menschen in ‘unterschiedlich wertvolle’ Kinder, Frauen und Männer klassifizierten. Das ist nirgendwo auf der Welt akzeptabel! Nach der Befreiung 1945 riefen wir Überlebenden alle ‘Nie wieder!’. Für unsere Mitgefangenen mit dem rosa Winkel galt das aber nicht: Sie wurden in den meisten Ländern, auch in Deutschland, weiterverfolgt.
In Deutschland ist das zwar endlich vorbei. Aber ein aufrichtiges und umfassendes Erinnern an die homosexuellen Frauen und Männer, die damals litten und starben, fehlt noch immer und ist dringend nötig – sowohl im Deutschen Bundestag am Holocaust-Gedenktag als auch in der Gedenkstätte Auschwitz.“

zitiert nach: Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten, herausgegeben von J. Ostrowska, J. Talewicz-Kwiatkowska, L. van Dijk

Stoppt den Hass!
„Deutschland, aber normal“
heißt das Motto der AfD zur Bundestagwahl 2021. Im Rahmen der sogenannten „Demo für Alle“ diffamiert sie Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt an den Schulen seit vielen Jahren als „Frühsexualisierung“ und bringt diese in Verbindung mit Kindesmissbrauch. Ausgerechnet die AfD-Politikerin Dr. Baum sprach im baden-württembergischen Landtag von einer „Diktatur der Minderheit“, welche die traditionelle Familie bestehend aus Mutter, Vater und Kindern zerstören würde. Das Erstarken der AfD hat in den letzten Jahren für ein Klima gesorgt, in dem Gewaltübergriffe auch gegen LSBTTIQ-Menschen in Deutschland zunehmen. Homophobe Gewalt auf einzelne CSD-Teilnehmende gab es leider auch beim letzten Präsenz-CSD in Stuttgart in 2019.

„Ist das deine oder meine Freundin?“
Als die 21jährige Norwegerin Gunvor Hofmo (1921-1995) sich im Hafen von Oslo von ihrer gerade verhafteten jüdischen Geliebten Ruth Maier (1920-1942) verabschieden wollte, versuchte ein deutscher Soldat sie fortzujagen. Gunvor blieb standhaft und schrie ihn verzweifelt an: „Ist das deine oder meine Freundin?“ Fünf Tage später war Ruth Maier tot. Am
1. Dezember 1942 wurde sie, unmittelbar nach Ankunft in Auschwitz, gemeinsam mit 355 anderen Menschen vergast. (…) Bislang hatte niemanden das Leid dieser lesbischen Liebe interessiert. Ruth war eines der Millionen jüdischer Opfer. Gunvor tauchte gar nicht auf. (…) Nicht umsonst gab Claudia Schoppmann ihrer bahnbrechenden Arbeit über lesbische Liebe im „Dritten Reich“ bereits 1993 den Titel „Zeit der Maskierung“. Dieses Verstecken und schließlich Verstummen beschrieb vor kurzem auch Anna Hájková bei der lesbischen Jüdin Margot Heumann (*1928), die mehrere KZ’s, auch Auschwitz, überlebte und heute in den USA, mit 92 Jahren ihr gegenüber erstmals über ihre damaligen lesbischen Gefühle sprach. Es ist an der Zeit, die historische Forschung selbst zu „demaskieren“: Unvoreingenommen zu fragen, warum Geschichten wie die von Ruth Maier oder Margot Heumann so lange verborgen blieben – und jemand wie Freddy Hirsch (1916-1944) jahrzehntelang als Helfer der Kinder in Auschwitz nach 1945 geehrt wurde, aber erst in jüngster Zeit auch als jemand, der aus seiner Homosexualität kein Geheimnis machte? NS-Kriterien der Verfolgung gelten beim Gedenken bis heute (…). Es ist Zeit zum Umdenken. Ein Plädoyer des deutsch-niederländischen Schriftstellers und Historikers Dr. Lutz van Dijk (Auszüge, Der Tagesspiegel, 4.2.2021)

Infos zur regionalen LSBTTIQ-Geschichte während der NS- und Nachkriegszeit: www.der-liebe-wegen.org und www.lsbttiq-bw.de

Bündnis Vielfalt für Alle, Stuttgart 30. April 2021 | V.i.S.d.P. Kerstin Bosse und Ralf Bogen