Die Akzeptanz menschlicher Lebens- und Liebesvielfalt nachhaltig stärken
Das Bündnis Vielfalt für Alle unterstützt die Aktivitäten zur Erinnerung an die Befreiung Deutschlands und Europas vom Faschismus und Krieg am 8. Mai 1945. In 2020 jährt sich dieser Tag zum 75. Mal. Für diesen Tag haben Millionen alliierte Soldat*innen, Menschen aus dem Widerstand, Partisan*innen und Kriegsdienstverweiger*innen ihr Leben riskiert und geopfert.
Ihrer sowie aller Opfer der NS-Diktatur werden am 8. Mai 2020 verschiedene Organisationen sowie Einzelpersonen mit Blumen am antifaschistischen Mahnmal in Stuttgart (Karlsplatz) zwischen 17 und 19 Uhr unter Einhaltung der Coronavirus-Schutzregeln (Abstand/erwünschter Mundschutz) gedenken. Dabei wird das Bündnis Vielfalt für Alle auch auf jene Schicksale von Menschen hinweisen, die aufgrund Ihrer Sexualität und ihres Geschlechts im Nationalsozialismus ausgegrenzt, entwürdigt und verfolgt wurden.
Der 8. Mai 1945 bedeutete für die lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen – kurz LSBTTIQ – die Befreiung von faschistischer Verhetzung, Unterdrückung und Terror. Ihre Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung ging jedoch nach 1945 weiter.
Der 8. Mai führt uns vor Augen, was geschehen kann, wenn Hass und Hetze eine Gesellschaft vergiften, wenn Ausgrenzung, Abwertung und Entrechtung von Menschen und ganzer Menschengruppen hingenommen oder gar unterstützt werden. Dieser Tag mahnt uns: Um Freiheit, Gleichwertigkeit und Respekt muss täglich neu gerungen werden.
Das gilt zum Beispiel angesichts der Situation von Geflüchteten in Griechenland, in Ellwangen und anderswo, die ihre Heimat wegen Verfolgung und Krieg verlassen mussten. Und das gilt auch, wenn rechtspopulistische Kräfte zunehmend rückwärtsgewandte Geschlechter- und Familienbilder für ihre demokratiefeindlichen Ziele instrumentalisieren. Gerade in Baden-Württemberg diffamieren sie in Zusammenarbeit mit fundamentalistischen Religionsgruppen besonders intensiv die Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in den Schulen als „Frühsexualisierung“ und bringen diese in Verbindung mit Kindesmissbrauch.
Diese demagogische Propaganda macht deutlich, wie wichtig es ist, erste erzielte Erfolge bei der Aufarbeitung und Darstellung des NS- und Nachkriegsunrechts an LSBTTIQ-Menschen in unserer Region nachhaltig zu stärken und auszubauen. Noch vorhandene Wissensdefizite zur Lebenssituation lesbischer und bisexueller Frauen sowie geschlechtlicher Minderheiten während der NS- und Nachkriegszeit gilt es jetzt – nach über 75 Jahren (!) – durch eine gezielte Forschungsförderung zu beseitigen.
Das Bündnis Vielfalt für Alle unterstützt auch deshalb die Forderung der KZ-Überlebenden Esther Bejarno, Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland sowie Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes -Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, den 8. Mai zu einem Feiertag zu erklären. Es ruft zur Online-Unterschriftensammlung „Den 8. Mai zum Feiertag machen“ auf (siehe https://www.change.org/p/8-mai-zum-feiertag-machen-was-75-jahre-nach-befreiung-vom-faschismus-getan-werden-muss-tagderbefreiung-bkagvat-bundesrat).
Bündnis Vielfalt für Alle, Mai 2020
Ansprechpartner*innen: Ralf Bogen (ralf.bogen@gmail.com), Kerstin Bosse (info@abseitz.de), Matthias Ehm (matthias.ehm@100mensch.de), Chris Michl (orga@csd-stuttgart.de)
Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft
„[Wir] wurden […] von den alliierten Truppen aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen befreit. Aber die Welt, auf die wir gehofft hatten, wurde nicht wahr. Wir mussten uns wiederum verstecken und wurden erneuter Verfolgung ausgesetzt.
[…] Heute sind wir zu alt und zu müde, um für die Anerkennung des an uns begangenen Unrechts zu kämpfen. Viele von uns wagten es nie, darüber zu sprechen. Viele von uns starben allein mit den qualvollen Erinnerungen.
Heute […] wenden wir uns an die junge Generation und an alle, die sich nicht von Hass und Vorurteilen leiten lassen wollen. Helfen Sie mit, sich mit uns zusammen gegen eine noch immer von Vorurteilen geprägte und unvollständige Erinnerung der nationalsozialistischen Verfolgung von Homosexuellen zu wehren. Lassen Sie uns das an Juden, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, Freimaurern, Behinderten, polnischen wie russischen Kriegsgefangenen, Homosexuellen und vielen anderen begangene Unrecht nie vergessen. Lassen Sie uns aus der Geschichte lernen und die jüngere Generation von homosexuellen Frauen und Männern, Mädchen und Jungen dabei unterstützen, ihr Leben im Gegensatz zu uns in Würde und Respekt zusammen mit ihren Partnern, Freunden und Familien führen zu können. Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft.”
Aus dem Memorandum von acht homosexuellen KZ-Überlebenden, welches am 28. Mai 1995 veröffentlicht wurde (siehe www.der-liebe-wegen.org)
Informationen zu LSBTTIQ-Menschen unter der NS-Diktatur und in der frühen Bundesrepublik:
Im Netz: www.der-liebe-wegen.org und www.lsbttiq-bw.de
Aktuelle Publikationen: „Späte Aufarbeitung“ – LSBTTIQ-Lebenswelten im deutschen Südwesten, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 2018. „Verfolgung der homosexuellen Männer und Frauen in der NS-Zeit“, 21. Invertito –Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, Fachverband Homosexualität und Geschichte (FHG) e.V., Hamburg 2019. Vorankündigung: „Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten“, Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz-Kwiatkowska, Lutz van Dijk (Hrsg.), Berlin 2020.